Zuerst das Vergnügen, dann die Arbeit

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24. März 2021 ( Val de Zinal, Anniviers - VS )

Als ich aufstehe fühle ich mich ausgeruht. Nach dem Frühstück bessert sich meine Stimmung, auch weil ich schon die ersten Erfolge meiner besseren morgendlichen Organisation sehe. Heute muss niemand mehr auf mich warten. Als ich nach draussen gehe, kommt mir die übliche eisige Morgenkälte entgegen. Die Sonne küsst mit ihrem warmen Licht die ersten Berggipfel wach und die weissen Spitzen leuchten wie Lampen in das noch schattige Tal.

Ich kann es nun kaum erwarten, von hier weg zu gehen, nicht weil es mir hier nicht gefallen hat, sondern einfach, um diesen belasteten Ort hinter mir zu lassen, etwas Abstand zu bekommen. Die Aussicht auf eine lange Gletscherabfahrt lässt zusätzlich Freude aufkommen und so bin ich unglaublich motiviert, wieder in die «normale» Tagesroutine zurückzugehen.

Wir fahren los, der Schnee ist durch die Kälte äusserst pulverig geblieben und der weite Gletscherrücken bietet ausreichend Platz, unsere Tiefschneefreuden auszuleben. So gleiten wir fast geräuschlos in das einsame und wunderbare Val de Zinal hinunter. Es ist eine dieser wunderbaren Abfahrten, wie man sie sich in den kühnsten Träumen vorstellt.

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Als wir nach ca. 1h am Ende der Gletscherabfahrt bei der Weggabelung zur Tracuit Hütte ankommen, machen wir eine kurze Pause, montieren die Felle und haben kurz Empfang. Alex findet online den 20min Artikel über den gestrigen Unfall. Es ist im Wesentlichen die Kopie der Polizeimeldung. Wir sehen uns die Fotos im Bericht an. Es ist schon etwas beunruhigend im Schnee neben der Lawine unsere Fussspuren auf den Bildern zu sehen. Öfters, wenn ich solche Artikel sehe, versuche ich die Umstände zu klären, kurz zu recherchieren, wo das war und was die Leute evtl. falsch gemacht haben könnten, um zu reflektieren, ob auch mir so ein Unfall hätte passieren können. Es ist unangenehm, jetzt Protagonist in einem Ereignis zu sein, von dem man erwartet, dass es einem nicht passiert.

Ich versuche mich wieder auf andere Sachen, z.B. eine saubere Gehtechnik, zu konzentrieren. Ein langer Aufstieg von ca. 1400 Höhenmetern liegt vor uns. Da kann man mit konzentriertem und präzisem Gehen einiges an Energie sparen. Schritt für Schritt geht es nun nach oben, zuerst durch lichten Lärchenwald, wo sich das eine oder andere Wildtier versteckt und gemächlich von uns davonschleicht. Trotzdem driften meine Gedanken immer wieder ab zum gestrigen Tag. In den kurzen Trinkpause stelle ich aber fest, dass es nicht nur mir so geht. Auch bei den anderen kommen wieder Fragen auf. Was passiert jetzt mit dem anderen Bergführer? Wie sieht eigentlich so eine Unfallermittlung aus usw.? Da wir ja nicht unter Zeitdruck stehen, nimmt sich Janik Zeit, uns solche Dinge zu erklären. Ich schätze es, dass wir Zeit haben uns weiter darüber zu unterhalten, falls wir möchten.


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Wir lassen das schattige Tal hinter uns, steigen über die Baumgrenze hoch und erreichen einen kleinen Geländerücken, von dem aus wir Sichtkontakt mit der Hütte haben. Trotzdem ist es noch weit.

Die Sonne brennt inzwischen erbarmungslos auf uns nieder und das Licht reflektiert zusätzlich im Schnee. Von den Temperaturen her wäre T-Shirt-Wetter, aber zwangsläufig trage ich an den Füssen Skischuhe mit wollenen Skisocken sowie Skihosen und oben kann ich wegen der starken Sonneneinstrahlung nicht auf kurzarm wechseln. Auch die Kopfbedeckung kann man wegen der starken Sonneneinstrahlung nicht weglassen. In einem Zwischenstopp entscheide ich mich zu einem Stripp und wechsle zumindest auf leichtere Socken, lege mir ein T-Shirt auf den Kopf und ziehe alles aus, bis auf die äusserste dünne Langarmschicht. Es ist schon beeindruckend, dass auf 2600m im März ein solches Tenue passend ist. Ich hoffe, so an den Füssen nicht zu stark zu schwitzen, denn Blasen kann ich gar nicht gebrauchen.

Als ich mein Handy aus der Hose nehme, um ein Foto zu knipsen, sehe ich, dass ich den Flugmodus nicht aktiviert habe und dass ich irgendwann unterwegs eine Threema Nachricht erhalten habe. Ich lese sie und stelle fest, dass sich auf Grund des Newsartikels doch jemand Sorgen macht. Ich habe doch jemanden vergessen, der weiss, wo wir sind. Ich ärgere mich kurz über mich, denke aber dann, dass es wohl doch gut wäre, heute Abend mit jemandem von aussen ein paar Worte zu wechseln, zu telefonieren, besonders mit jemandem der mir so nahesteht. Ich schreibe zurück und hoffe, dass trotz mangels Empfangs, die Nachricht baldmöglichst raus geht.

Der Aufstieg beim Skitouren ist manchmal eine langweilige Sache, da muss man ehrlich sein. Man setzt einen Fuss vor den andern, starrt die Ferse der vorausgehenden Person an und das womöglich für Stunden. Hätte man nicht allein schon an der konditionellen Herausforderung Freude, wäre wohl Pistenskifahren eine näherliegende Sportart. Ich mag das aber, besonders weil man hie und da doch Dinge und Landschaften zu Gesicht bekommt, die den Pistenskifahrern in den Skigebieten verborgen bleiben. Ich überlege, dass man eigentlich einen Smiley an die Ferse der Skischuhe kleben könnte, um die Person hinter einem im Aufstieg etwas zu motivieren. Womöglich werde ich das machen, wenn ich nach Hause komme.

Plötzlich ertönt ein WUMM-Geräusch. Die Schneeschicht unter unseren Füssen gibt kurz nach. Wir sind aber in flachem, problemlosem Gelände. Ein Zeichen, dass es hier im Schneeschichtenaufbau eine Schwachschicht hat, die gerade zusammengesackt ist. Die dabei entweichende Luft erzeugt dieses spezielle Geräusch. Wirklich gehört habe ich es aber noch nie. In der Lawinenausbildung hat man immer davon gesprochen, es als wichtiges Warnsignal zu interpretieren, aber kennen tue ich das bisher nur aus der Theorie. Künstlich erzeugen lässt sich sowas in der Ausbildung leider nicht. Aufgeschreckt bleiben wir kurz stehen, gehen dann aber weiter, weil ja aufgrund des Geländes keine Gefahr besteht. Nach dem gestrigen Tag eine eher unangenehme aber wichtige Erfahrung, denn jetzt weiss ich endlich, wie sich dieses wichtige Geräusch anhört.

Wir nähern uns dem letzten Aufstieg. Trotz der Steilheit des Geländes und der vorhin erkannten Schwachschicht, ist dieser Hang eher unproblematisch. Fast alle, die in die Hütte oder von ihr weg wollen, müssen durch diesen Hang. Er ist seit Wochen mit unzähligen Spuren durchfurcht, die Schneedecke somit verschiedentlich gebrochen und zerkarrt, sodass die Wahrscheinlichkeit auf ein zusammenhängendes Schneebrett äusserst gering ist. Mir ist trotzdem etwas unwohl bei der Sache; mehrheitlich wegen gestern und ich bin froh, als wir oben die aperen Felsen erreichen, wo wir mit den Skiern am Rücken und in den Skischuhen ein paar Meter die Felsen hochklettern müssen. Als ich mich an den Felsen festhalte und mit den Händen einen guten Griff suche, merke ich, wie sehr mir das Klettern in den letzten Monaten gefehlt hat. Es fühlt sich toll an, wieder rauen, festen Stein in der Hand zu haben und etwas zu knobeln, wo man jetzt am besten für Hände und Füsse Halt findet. Leider ist die Kletterpartie nach drei/vier Griffen bereits beendet und wir traversieren noch kurz zur Tracuit Hütte hinüber. Wir sind am Ziel.

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Da wir all unsere Trinkflaschen und Trinksäcke beim aufreibenden Aufstieg bis auf den letzten Tropfen geleert haben, gibt es vor der Hütte als Erstes etwas zu trinken. Wir verweilen noch etwas, geniessen das Panorama und freuen uns über unsere heutige Leistung. Von der Anstrengung und der Sonne geschafft, lege ich mich später noch kurz hin. Da Janik für den anderen Bergführer die Hüttenreservationen der Unglücksgruppe storniert hat, ist man in der Hütte über unsere Geschichte informiert und wir werden auch hier gut umsorgt.

Wir haben Empfang. In einem unbenutzten Zimmer finde ich Platz, um in Ruhe noch das besagte Telefon zu machen. Es tut doch gut, noch mit jemand Aussenstehendem über die Sache zu reden.

Später sitzen wir noch etwas zusammen, plaudern und besprechen den morgigen Tag. Das Bishorn steht an, ein einfacher Viertausender. Wir haben Lust, morgen weiterzumachen und gehen motiviert und geschafft ins Bett.