Ein Vorgeschmack auf das was kommt.
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Im Oktober 2020. (
Lauteraarhütte, Guttannen
- BE )
Obwohl es noch eine Weile dauert bis meine Auszeit startet, mache ich mir schon viele Gedanken zu mögliche Gletscherthemen, über die es sich zu berichten lohnt, mir wichtige Orte, körperliches Training, Unterkunft, Logistik, Material, Sicherheit und Begleitung.
Noch sind es lose Gedanken, die ich von Zeit zu Zeit in
einem Notizbuch niederschreibe, damit sie sich in meinem mittlerweile schon
etwas in die Jahre gekommenen Gehirn nicht in Luft auflösen.
Ein faszinierendes Gletscherelement, das mir dabei nicht aus dem Kopf geht, sind Gletschergrotten. Sie entstehen durch Schmelzwasser, Wärmeabstrahlung der umgebenden Felsen oder durch Aufreissen des Eises in den üblichen Spaltenzonen. Oft bilden sich im Bereich der Gletscherzunge, speziell am Gletschertor, solche Eisgrotten. In der Vergangenheit war unter anderem der Roseggletscher ein Hotspot dafür. Dort ist in den letzten 10 Jahren aber die ganze Gletscherzunge abgeschmolzen. Leider ist das kein Einzelfall und die charakteristischen Gletscherzungen mit imposanten Gletschertoren sind fast überall zu kümmerlichen Schutt- und Eishaufen abgeschmolzen. Diese klassischen Stellen für Eisgrotten existieren fast nicht mehr. Das soll aber kein Grund sein, dass ich mir das aus dem Kopf schlage. Ich habe deshalb Stunden über Landkarten gebrütet, mir Fotos von vielversprechenden Gletschern angesehen und entsprechende Berichte gelesen. Man hat ja gerade viel Zeit dazu. Es ist zudem eine gute Gelegenheit gedanklich und ohne viel Schweiss in diese tolle Welt zu reisen.
Der Unteraargletscher im Grimselgebiet scheint mir ein möglicher Kandidat zu sein, der noch ein intaktes Gletschertor aufweisen könnte. Wenn möglich, wollte ich vor dem grossen Schnee diese Hypothese prüfen.
So brach ich gegen Ende Oktober 2020 mit Alexandra
Richtung Grimselpass auf. Alex, eine leidenschaftliche Klimaaktivistin, die
gerne mit Schneemännern auf die globale Erwärmung aufmerksam macht, konnte sich
dafür begeistern, mich zu begleiten. Es ist spät im Jahr für Bergtouren in so
grosser Höhe und die SAC Hütten sind geschlossen. Der Hüttenwart hat uns
trotzdem erlaubt, selbstversorgend im Winterraum zu übernachten. Der erste
Schneefall in den vorangegangenen Tagen kündigt an, dass es nun definitiv
vorbei ist mit einfachen Bergtouren im Hochgebirge. Wir hoffen, dass die
Sonnenstrahlen der letzten Tage den Schnee genügend abgeschmolzen haben, sodass
wir gefahrlos zum Gletscher und zur Hütte zusteigen können und den richtigen
Weg finden.
Obwohl wir anfangs durch den Schnee stapfen müssen, treffen wir die für diese Tour benötigten Mindestverhältnisse an. An den verschneiten Stellen folgen wir Fussspuren. Zu unserem Glück ist kürzlich eine ortskundige Person diesen Weg gegangen. Das macht das Navigieren für uns etwas einfacher. Wir wandern entlang des Grimselsees, alleine in das imposante von riesigen, Millionen Jahre alten Granitwänden geprägte Tal.
Wir sind langsam unterwegs, einerseits wegen den Verhältnissen, andererseits macht mich Alex immer wieder auf sehenswerte Details am Wegrand aufmerksam. Zu Eis erstarrte Gräser, Haareis ähnliche Bodenskulpturen, Frösche die sich im Gras verstecken und tausend Jahre alte Landkartenflechten. Ich schäme mich etwas, dass ich an solch tollen Naturschönheiten einfach so vorbei laufe, ohne sie wirklich zu bemerken. Es ist ein Geschenk mit jemandem unterwegs zu sein, der nicht so viel im Hochgebirge ist und deshalb mit ganz anderen Augen durch die Landschaft geht. Ich nehme mir vor mich diesbezüglich zu bessern.
Wir lassen den See hinter uns und kommen dem Gletscher immer näher. Das Tal wird weiter, unsere Begeisterung bleibt. Zu unserem Erstaunen kommt uns jemand entgegen. Es ist der Chef der Hüttenkommission des SAC Zofingen. Er war es, der uns vorgespurt hat und kurz in der Hütte nach dem Rechten sah. Wir wechseln mit ihm ein paar Worte, erkundigen uns nach den Wegbedingungen und bedanken uns bei ihm für die wertvollen Informationen. Nun steigen wir seitlich eine Moräne hoch, um aus sicherer Entfernung einen Blick auf die Gletscherzunge zu bekommen. Zu meiner Freude erkenne ich ein Gletschertor, obwohl die Entwässerung des Gletschers offensichtlich auf der gegenüberliegenden Seite erfolgt.
Ich packe meine Drohne aus, um hin zu fliegen und das Gletschertor aus der Nähe zu betrachten.
Die Analyse zeigt, dass im Gletschertor grosse instabile
Eisschuppen herunterhängen, die jederzeit herunterfallen könnten. Eisblöcke
liegen lose verstreut vor dem Gletschertor was beweist, dass dies tatsächlich
auch passiert. Ich bin etwas enttäuscht, dass diese Gletschergrotte eindeutig
zu gefährlich ist und frage mich, ob ich in nützlicher Frist wohl eine
Alternative finden werde. Als ich kurz das Videomaterial von der Drohne
einsehe, verfliegt aber meine Enttäuschung, denn die Aufnahmen vom Gletschertor
und der Landschaft sind wunderschön. Wir steigen die letzten Meter zur Hütte
auf und kommen rechtzeitig an, um in eisiger Kälte und mit einer schützenden
Hütte im Rücken den Sonnenuntergang zu geniessen.
Wir machen Feuer, kochen uns was und kuscheln uns in der
kalten Hütte gleich in mehrere rumliegende Faserpelzschlafsäcke. Ich fühle mich
wie die Füllung eines Nussgipfels eingehüllt in Blätterteig.
Am Morgen geht es schnell. Wir wärmen uns einen Porridge, räumen die Hütte sauber auf und tragen uns ins Hüttenbuch ein. Ich freue mich riesig, dass wir hier so ein tolles Selbstkocher-Winterraum-Erlebnis hatten. Wir verschliessen alles gemäss Anweisung und machen uns an den Abstieg. Der Weg ist noch rutschig und unsere Tritte im Schnee von gestern sind über Nacht zu Eis gefroren. Eine sehr unangenehme Überraschung. Ich bin froh, dass das Gelände nicht ausgesetzt ist und wir ohne Steigeisen weiter gehen können. Zu unserer Überraschung kommt uns wieder jemand entgegen. Es ist Stefan und Claudia, die beiden Hüttenwarte, die nach unserem Besuch nachschauen, ob die Hütte nun für die kommenden Wochen winterfest ist. Wir wechseln mit ihnen ein paar Worte, erzählen ihnen von unserem tollen Aufenthalt und hoffen, dass sie mit uns zufrieden sein werden.
Der Rückweg fühlt sich irgendwie länger an und wir kämpfen ganz am Schluss nochmals mit nicht gefährlichen, aber sehr schwierigen Wegverhältnissen.
Auch wenn ich am Gletschertor nicht die erwünschten Bedingungen vorgefunden habe, war es diese Tour doch wert. Die Landschaft und das Hüttenerlebnis waren einmalig und ich bin mir sicher: ich war nicht das letzte Mal hier. Ausserdem, bis man sich die Skier an die Füsse schnallen kann, bleibe ich wohl definitiv im Tal.